Helene Weigel, 1900-1971
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Theater der Zeit. 2.73  S. 19-20. Über Schauspielkunst
Von Helene Weigel
<Der Beitrag von Helene Weigel ist einem Gespräch entnommen, das Werner Hecht mit ihr geführt hat.>
 
 

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Ich habe achtzehn-, neunzehnjärige als Schauspielerin angefangen. Es was mehr ein platzen von Kraft und Talent. Sicher kein falsches Pathos, mehr eine Art grober Wahrhaftigkeit, bedenkenlose Wahrhaftigkeit. Der Übergang vom Bedenkenlosen zu Überlegten kam durch Brecht. Brecht hielt am Anfang von mir als Schauspielerin nicht viel. Er hat zwar mit mir gearbeitet, z. B. die Magd in «Ödipus». Das ist eigentlich die erste Arbeit gewesen, die er in Anerkennung, es könne doch eine Art Talent sein, mit mir gemacht hat. Er hat im Grunde erst während der Proben zur «Mutter» 1932 gesehen, daß noch andere Möglichkeiten bestanden. Ich übrigens auch.

Aus dem Wort ¸Schauspieler` geht hervor, daß man etwas zur Schau stellt. Da nützt mir das Seelenleben ganz wenig, wenn ich es nicht ausstellen kann. Es kommt auf eines an: was wird sichtbar und was nimmt der Zuschauer auf? Das muß man mit einer Auswahl machen, denn der Zuschauer kann aus vielen Handlungen etwas ganz anderes zusammensetzen als man meint. Ich suche nach äußeren Kennzeichen. Nach einem sichtbaren Ausdruck. Es kann nur das kommen, meine ich.


Für eine Figur suche ich Äußerlichkeiten - Gänge, Körperhaltungen. Der Text gibt dazu immer Hinweise. Bei der Volumnia habe ich zum Beispiel viele Arten von Gängen benutzt. Eine artistische Spielerei. Bei der «Mutter» ertappte ich mich, wie ich die Wlassowa in einer merkwürdig schiefen Haltung spielte. Plötzlich fiel mir ein, daß das real war: bei schwerer Arbeit senkt sich die eine Schulter. Damit das nun für die Figur bleibt, habe ich mir auf der linken Seite ins Kleid eine Polsterung einlegen lassen.


Ich sehe und stehle, wo ich kann. Den stummen Schrei in «Mutter Courage» fand ich durch ein Foto in Brecht Ausschnittsammlung: Darauf war eine Frau zu sehen, die bei einem Massengrab stand. Diese Frau stand scheiend, mit offenem Mund. Ich glaube, daher habe ich das. Wenn die Courage dann bei dem Schrei zusammenknickt, geht das auf eine andere Beobachung zurück: Es ist typisch, wenn eine Frau sich so zusammenkrampft. Eine Frau spürt Scherz im Unterleib. Auf dem Theater entsteht daher eine Assoziationsreihe: Mutterleib-Sohn. Mann kann alles brauchen.


Ich betrachte meine Figuren ganz praktisch. Eine Frau lebt davon, daß sie etwas zusammenhalten muß; meitstens ihre Familie. Dadurch gibt es sogar großen Ähnlichkeiten zwischen so verschiedenen Figuren wie z.B. der Flinz und der Volumnia. Sie sind sich darin gleich, daß sie ihre Kinder dazu bringen, etwas zu tun, was nicht nur ihnen nützt. Die Volumnia bringt den Coriolan zu Haltungsänderungen, sie bricht ihm auf niederträchtige mütterliche Art zweimal das Genick. Und wenn der Flinz die Burschen nicht ausreißen würden, hätte sie ihnen auch das Genick gebrochen. In solchen Gestaltungen finden sich kritische Haltungen gegenüber der konventionellen Mütterlichkeit. Hier geht es um die Erhaltung der Familie, auf Biegen oder Brechen, und wenn eine ausbrechen will, wird es zum Ducken gebracht.


Zuerst aber sammle ich, was mir für eine Figur einfällt, dann treffe ich eine Auswahl. Man muß eliminieren, was zuvile ist, damit die großen Punkte kommen können. Durch eine Häufung von Einzelheiten kann man eine Figur kaputtmachen. Bei der Courage mußte ich seh achtgeben, weil mir zur Figur sehr viel, zuviel, und auch Kleinkram, eingefallen war. Ich habe vieles verworfen, damit keine Unruhe aufkam.


Ich lege großen Wert auf die Materialien der Kostüme. Man muß auf der Bühne achtgeben, daß ein Stoff von unten nicht künstlich wirkt. Dann müßte ich versuchen, wie ich zu einem weichen Stoff komme, einem abgetragenen, ohne Glanz, mit Musterchen. Das Muster müßte unten gar nicht in Erscheinung treten, aber es braucht die Brüche, die das Muster ergibt, wenn man es auch nich mehr auf eine Entfernung sehen kann. Ich habe z. B. das Tüchel der Flinz aus vielleicht zwanzig Tüchern herausgefischt. Das ist auch so ein Stoff, den man heute selten findet. Mit den Bühnenbildnern war bei solchen Erfindungen gewöhnlich nur auszukommen, wenn man ihnen einreden konnte, der Einfall stamme von ihnen.


Ich gehe in die Proben ohne vorgefaßte Meinung. Natürlich brauche ich den Regisseur, denn man steht oben auf der Bühne mit fünf oder sechs Leuten und muß zu einem Arrangement kommen, das man nur von unter aus beurteilen kann. Früher war der Regisseur ein Arrangeur, das ist keine Herabsetzung dieses Berufes. Das Arrangieren der Bezüge zwischen Menschen hat bei Brecht eine sehr große Rolle gespielt. Ich habe am liebsten mit den Regisseur gearbeitet, die einem Zeit ließen, etwas zu erfinden, die sich nicht hereingemischt haben. Brecht hat am Anfang einer Inszenierung gewöhnlich gar nichts gesagt. Er hat wirklich zugeschaut: vielleicht machen wir das so. Das ist heute leider bei vielen Regisseuren verlorengegangen.