HECHT: hecht WEIGEL: weigel
S.225
Die Kennerin der Wirklichkeit
Helene Weigel
1
Die Bühnenfigure der Weigel hatten klassische Größe. Man erinnert sich sofort an Einzelheiten: Wie sie als Courage fachmännisch die neuen Waren prüft. Wie sie als Wlassowa das eben erhaltene Parteibuch liebevoll in die Hände einschließt. Wie sie als Flinz dem Möbelfabrikanten stolz ihre fünf Söhne präsentiert. Wie sie sich als Volumnia vor ihren abtrünnigen Sohn niederwirft und den Kopf dreimal auf den Boden schlägt. Diese und andere Details großer Haltungen haben sich unvergeßlich eingeprägt, weil die Weigel den Mut und das Talent hatte, aus dem reichen Gangebot ihrer Mittel auszuwählen. Sie beschränkte sich auf Weniges, auf «die großen Punkte», wie sie sagte, aber auf das für ihre Figuren Wesentliche.
HECHT: Ich würde gern mit der Schauspielerin anfangen. Wir hatten
ja schon ein paarmal Gespräche mit Studenten über Schauspielkunst.
Ich kann mich erinnern, daß Sie sagten, die Schauspielkunst sei eine
oberflächliche Kunst. Wobei Sie «Oberfläche» aber
bedeutsam interpretiert haben.
WEIGEL: Es gibt eigentlich aus dem Wort des Berufs schon das Zurschaustellen
einer Sache. Da nützt mir das Seelenleben ganz wenig, wenn ich es
nicht ausstellen kann. Der Punkt ist: Was wird sichtbar und was übernimmt
dann der Zuschauer? Das muß man mit Auswahl machen, denn der Zuschauer
kann bei vielen Handlungen ganz was anderes zusammensetzen, als man meint.
Ich such' eigentlich, wenn ich was versuche zu finden, nach äußeren
Kennzeichen.
HECHT: Und das meinen Sie dann mit «an die Oberfläche kommen»,
daß es Ausdruck findet, sichtbaren Ausdruck.
WEIGEL: Ja, sichtbar. Es kann nur, meine ich, das kommen.
Die wenigen Rollen der Weigel am Berliner Ensemble sind alle berühmt
geworden. Nach Manfred Wekwerths schöner Beobachtung liefert sie «den
schlüssigen Beweis, daß Stars nicht nur durch Titelfotos, sondern
auch durch Arbeit gemacht werden können». So ist der Star Helene
Weigel noch heute vielen in Erinnerung besonders durch: Courage (1949),
die Pelagea Wlassowa (1951), die Carrar (1952), die Großbäuerin
aus Katzgraben, die Gouverneursfrau und Mütterchen Grusinien
aus dem Kaukasischen Kreidekreis (1954), die Frau Flinz (1961) und
die Volumnia aus Coriolan (1965).
Für jede Rolle schuf sie eine unverwechselbare lebendige Figur.
Ihre Gestalten erzählen die Geschichten der Stücke. Sie ordnete
ihre Einfällen, ihre realistischen Details der Fabel unter.
WEIGEL: Bei der Mutter was das, daß ich mich ertappte,
in einer merkwürdigen schiefen Haltung dazustehen. Und es fiel mir
auf, daß das ganz real ist, das heißt, bei schwerer Arbeit
senkt sich die eine Schulter. Und dann hab ich mir gedacht, damit ich's
nicht verliere, damit es für die Figur bleibt, hab ich mir natürlich
an der linken Seite was einlegen lassen.
HECHT: Und das hatten Sie bei der Mutter 1951 gemacht oder schon
vorher?
WEIGEL: Nein, 51 kam mir zu Bewußtsein, daß da was Komisches
wär!
HECHT: Ich weiß, daß Sie bei Katzgraben wohl mehr...
WEIGEL: Das ist ein Racheakt. Das ist was anderes.
HECHT: Die Rache an der Tante?
WEIGEL: Die Rache an der Tante Berta, ganz recht. Nie vergessen!
HECHT: Ja, aber die Rache ist wohl so ausgefallen, daß die Tante
Berta dann doch schlechter weggekommen ist, als sie war.
WEIGEL: Viel schlechter. So schlimm war's gar nicht. Außerdem
hab ich ihr so viele Sachen angehängt, die also gar nicht der Fall
waren: Sie hat nicht einen Buckel, einen Kropf und so eine Stimme gehabt,
überaupt nicht. Das war eine Sache, aber nicht drei.
HECHT: Sie haben den ruf, daß Sie ungeheuer praktisch wären
, auch als Schauspielerin. Und was Sie darstellen, ist eben praktisch.
WEIGEL: Ja, natürlich. Der Mensch lebt von verschiedensten Sachen.
Und eine Frau lebt eigentlich davon, daß sie etwas zustande bringen
muß, irgendwas, ihre Familie. - Wenn Sie wollen, gibt es ganz große
Ähnlichkeiten zum Beispiel zwischen der Flinz und der Volumnia, die
beide jemanden dazu bringen, was zu machen. In dem Punkt sind die beiden
Frauen sich sozusagen wirklich gleich. Die Volumnia bricht ihrem Sohn doch
zweimal das Genick. Und wenn ihre die Bruschen nich ausreißen würden,
der Flinz, hätte ssie ihnen auch das Genick gebrochen. Also, wenn
Sie so wollen, das ist auch eine ziemlich Abneigung gegen bestimmte Formen
der Mütterlichkeit.
HECHT: Das isst wirklich ganz praktische Mütterlichkeit, die zielt
erst mal auf die Erhaltung der Familie.
WEIGEL: Erhaltung der Familie, auf Biegen oder Brechen, und wenn da
eines der Kinder ausrutschen will, wird's geduckt.
HECHT: Und es kommt letzten Endes durch diese Darstellung zustande,
was Brecht als politische Wirkungen bezeichnete. Das heißt, man macht
einen Prozeß durchschaubar von einem gesellschaftlichen Standpunkt
aus.
WEIGEL: Ja, sicher.
HECHT: Das strebt man als Schauspieler nicht direkt an; es kommt sozusagen
dabei eben heraus.
WEIGEL: Als Nebenprodukt. Das braucht ja nicht mit dem Zeigefinger
sein. Die Möglichkeit ist bei diesen Frauen wirklich gegeben. Mir
ist das übrigens erst jetzt eingefallen: diese wirkliche Ähnlichkeit
zwischen der Volumnia und der Flinz.
HECHT: Würden Sie das, was Sie machen, einen bestimmten Schauspielstil
nennen?
WEIGEL: Nein, nein, warum denn? Um Gotteswillen.
Ohne Zweifel beruht die Größe der Schauspielkunst von Helene Weigel in ihrem Talent und in ihrem Mut, das Typische einer Figur zu erfassen. Sie stellte das Wesentliche groß heraus, indem sie ihre reichen Mittel - nach Brechts klassischem und heute mitunter vergessenem Rat - sparsam einsetzte.
WEIGEL: Ich benütze ja nicht alles, was mir dazu einfällt.
HECHT: Nur was nützlich ist für eine bestimmte Figur.
WEIGEL: Ich würde noch weiter gehen, nicht nur für eine Figur.
Man muß anfangen, wegzunehmen, was das Zuviel ist, die Einzelheiten
zu eliminieren. Es müssen nur große Punkte kommen. Man kann
die Figur durch eine Häufung von Einzelheiten auch kaputtschlagen,
mein ich. Das war mir zum Beispiel - da mußte ich plötzlich
achtgeben - auch in der Courage passiert, wissen Sie. Da war mir
so viel eingefallen, und es fel mir noch jeden Abend was ein. Da
war mir so viel eingefallen, und es fiel mir noch jeden Abend was ein.
Da mußt' ich plötzlich streichen. Eine völlige unruhe entstand,
eine unerträgliche.
2
Das Talent der Weigel verschaffte sich sehr früh Ausdruck. Als sie, achtzehnjährig, einem Wiener Theaterdirektor das Gedicht «Edward» vorsprach, urteilte der Fachmann betroffen: «Eines der größten dramatischen Genies, die jemals geboren wurden.» Die Weigel machte sofort karriere, spielte ab 1922 schon an ersten Berliner Bühnen. Sie galt als besonders expressive und sogar als die lauteste Schauspielerin dieser Sadt. Als Brecht sie 1924 kennenlernte, brachte er sie in ihrem Beruf in die Krise.
HECHT: hatte Brecht eigentlich schon bei den frühen Arbeiten, sagen
wir bei Maria
Magdalena oder Drei Mädel aus der Vorstadt mit Ihnen
gearbeitet?
WEIGEL: Keine Spur. Er hat damals nicht viel von mir gehalten als Schauspielerin,
es war gar nicht so. Wirklich gearbeitet - wo fing das an? Bei der Klara
hat er, glaub' ich, etwas gearbeitet.
HECHT: Die erste Beschreibung, die Brecht machte, war Ihre Darstellung
der Botin in Ödipus.
WEIGEL: Ödipus, die Magd. Das ist eigentlich aber die erste
Arbeit gewesen, die er in Anerkennung, daß es doch eine Art Talent
sei, mit mir gemacht aht. nur ist das besonders komisch, denn ich hab ja
sehr viel das gespielt, was man Charakterfach nennt. Er hat im Grunde erst,
als die Proben von der Mutter begannen, gesehn, daß das ganz
woanders hingeht.
HECHT: Das war für Sie auch eine Überraschung, weil da Züge
herauskamen, die Brecht und Sie beide nicht vermutet hatten.
WEIGEL: Ja, na ja. So wie ich aussah und so wie ich anfing, ging das
alles los ins Characterfach. Und vom Charakterfach ins Müterfach zu
kommen, is fas kein Weg im Theater.
Die Weigel trat aus der Krise, in die sie durch Brecht gekommen war, mit neuer Qualität hervor. In der ersten ihrer Mütterrollen entwickelte sie die Züge, die wir an ihr später so sehr schätzen elernt haben: Freundlichkeit, Wärme, Lebensklugheit. Aber bereits ein Jahr später mußte sie mit ihrer Familie Nazideutschland verlassen. Für 15 Jahre war sie - bis auf sehr wenige Gelegenheiten - aus ihrem Beruf ausgeperrt. Im Exil schrieb Brecht für sie die Rolle der Stummen Kattrin, damit sie darin in verschiedenen Ländern auftreten konnte, aber keine skandinavische Bühne war mutig genug, die Mutter Courage des deutschen kommunistischen Dichters Brech aufzuführen. Als sie dann 1947 nach Europa zurückkehrte, probierte sie - wie im verborgenen - mit Brecht in der kleinen schweizerischen Stadt Chur aus, ob sie ihren Beruf noch ausüben kann. Brecht schrieb für sie eine Bearbeitung der Antigone des Sophokles. Der Test ergab, dasß Helene Weigel im Vollbesitz ihrer großen Schauspielkunst war.
3
HECHT: Wir haben Sie immer sagen hören, daß Sie die Regie
für nützlich und wichtig halten, weil der Schauspieler oben auf
der Szene nicht sehen kann, wie unten etwas wirkt.
WEIGEL: Ja, weil man nicht sieht, daß mann nicht allein auf der
Bühne ist, sondern fünf, sechs Leute. Man muß da zu der
Kombination kommen. Und die kann ich nicht sehen, nie. Die kann nur der
Mann unten sehen. Was früher der Regisseur war, das war ein Arrangeur.
Das ist keine Beleidigung. Das Arrangieren dieser Bezüge zwischen
Menschen hat zum Beispiel bei Brecht eine riesige Rolle gespielt.
HECHT: Welche Regieart hat Ihnen am meisten genutzt?
WEIGEL: Vor dem Zusammentreffen mit dem brecht haben mir eigentlich
diese simplen genützt, die einen zum Erfinden Zeit ließen, die
sich nicht immer hereingemischt haben. Ich erinnere Sie daran, daß
der brecht am Anfang einer Inszenierung überhaupt nichts gesagt hat.
Der hat ja wirklich zugeschaut und erst nach langem Zögern gesagt:
Vielleicht machen wir das so. Das ist also wirklich verlorengegangen.
HECHT: Also, wenn ich's mal so sagen kann: Ihnen war eine Regie dann
am liebsten, wenn eine Situation deutlich gemacht wrude, und Sie hatten
nun Möglichkeiten, innerhalb der Situation Erfindungen zu machen?
WEIGEL: Na ja, also wissen Sie, man macht auch manchmal keine Erfindungen!
HECHT: Oder Angebote, sagen wir: Angebote.
WEIGEL: Möglicherweise passiert's. Das ist ein Glücksfall,
wenn man Angebote machen kann. Und dann ist noch der zweite Glücksfall,
ob der Mensch, der sie angeboten kriegt, was damit anfangen kann. Muß
ja nicht sein.
Die Regie-Angebote der Weigel waren immer sehr praktisch. Bei Frau
Flinz wurde beipsielsweise eine Szene erstmals probiert, in der die
Umsiedlerin Flinz im Herrenzimmer des Möbelfabrikanten, das ihr und
ihren fünf Söhnen zugewiesen worden war, etwas arbeiten sollte.
Man hatte ihr eine Wanne hingestellt zum Wäschewaschen. Die Weigel
lehnte diesen Vorschlag sofort ab. «Nie, niemals», sagte sie
vorwurfsvoll zum Autor, «würde die Flinz hier in diesem Zimmer,
auf einem Parkettfußboden, Wäsche waschen.» Sie bestand
darauf, daß die Flinz als eine saubere und ordentliche Frau gezeigt
wurde, die gerade diesen Wohnraum pfleglich behandelt. Man einigte sich
schließlich auf Bügeln.
Als in einem anderen Stück ein Mädchen auf die Szene gerannt
kam, das mit Steinen beworfen worden war, reichte es ihr nicht aus, daß
sie von ihren Angehörigen schützend in die Arme genommen wurde.
Sie ließ einen Stuhl bringen, auf den sich das Mädchen setzen
konnte. «Das ist das Mindeste», meinte die Weigel.
Die sich um alles im Theater kümmerte, mischte sich - nicht selten
zum Verdruß der Regisseure und Bühnenbildner - natürlich
auch direkt in die Regie ein. Ich fragte sie, ob diese Art von Hilfe gern
gesehen wurde.
WEIGEL: Überhaupt nicht! Meistens muß man ihnen einreden,
der Einfall war von ihnen.
HECHT: Aber sie nehmen es dann nicht mit auf?
WEIGEL: Doch! Da würd' ich direkt meinen, als Rat für meine
Kolleginnen für spätere Zeiten - laß die Leut' nur glauben,
der Einfall war von ihnen, sonst kommste nicht durch.
HECHT: Das ist übrigens auch eine glänzende Idee für
Theaterleitung.
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HECHT: Ich würde jetzt gerne über Ihre Theaterleitung sprechen.
WEIGEL: Da können wir ja gleich von einem zum andern übergehen:
praktisch, wissen Sie. Das Stichwort ist: praktisch.
HECHT: Warum hat Ihnen Brecht 1949 die Theaterleitung übertragen?
Sie hätten doch jetzt erst mal als Schauspielerin genügend zu
tun gehabt. Aber Sie sind gleich eingesetzt worden als die Intendantin.
WEIGEL: Na ja, also erstens, weil er's nicht wollte. Er hat sich auch
dabei etwas gedrückt vor einer bestimmten Arbeit. Durch diese vielen
Jahre - wir haben ja wirklich sehr lange zusammengelebt - mußte er
ja gesehen haben, daß ich ein wirkliches Organisationstalen hab'.
Denn auch aus diesen läppischen Bemühungen noch in Finnland und
dann weiter in Amerika - da war ja wirklich also Minimales an Geld vorhanden,
um immer noch ein Bestimmtes aufrechtzuerhalten: nämlich einen Platz
für Brecht, an dem er arbeiten konnte ohne Störung, und es so
zu führen, ohne Beunruhigung der Kiner. Das waren so die Punkte. Und
das ist schon gelungen. Dann hat mir Brecht eines Tages gesagt: «Das
kannst du», und da hab ich gesagt: «Na schön!»
Das praktische Genie der Weigel, das Brecht ebenso schätzte wie
ihr künstlerisches, hat sich in der Tat vielfach bewährt. Bei
einem Gastspiel 1970 in Jugoslawien wurde sie in einer erlesenen Runde
von Schriftstellern, Theaterdirectoren und Kultrpolitikern befragt, worin
denn ihr Beitrag zum literarischen Werk Brechts bestehe. Die Weigel
schockierte ihre Bewunderer lachend mit der Antwort: «Ich habe halt
gut gekocht.» Und das war nicht nur ein Bonmot. Gewiß spielt
sie hier ihren wirklichen Anteil mit koketter Bescheidenheit herunter -
sie hat bekanntlich Brecht zu einigen Arbeiten direkt angeregt, mitgearbeitet
und zu vielen Änderungen aufgefordert. Aber in Wahrheit ist es das
große Verdienst der Weigel im Exil, unter Hintansetzung eigener Interessen
Brecht die Arbeitsvoraussetzungen geschaffen zu haben, die seine Produktivität
in so außerordentlichem Umfang freisetzte.
Die Gestaltung der Courage im Januar und die Gründung des Berliner
Ensembles im September 1929 unter der couragierten Weigel waren Leistungen
von erstaunlichem Ausmaß. Brecht schrieb ihr im Dezember 1949 den
schönen Brief: «Liebe Helli, Dank für ein gutes Jahr, von
dem Du das Größte warst.»
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Wer Helene Weigel zum erstenmal in ihrer Wohnung besuchte, war überrascht
von der Bescheidenheit und Schönheit der Einrichtung. Da war nichts
Prunkvolles, nichts Überflüssiges. Die Weigel wohnte in Berlin
zur Miete. Sie besaß kein eigenes Auto. Den größten Teil
ihrer Einnahmen steckte sie in das Brecht-Archiv, mit dem sie den Grundstein
für eine zentale Sammel- und Forschungsstätte des künstlerischen
Werks von Brecht schuf.
Das Exil hatte sie den wirtschaftlichen Umgang mit spärlichen
Mitteln gelehrt und ihre Lebenshaltung dauerhaft geprägt.
HECHT: Hängt nicht mit der Bescheidenheit auch zusammen, wie Sie
zum Beispiel leben?
Sie haben das Notwendige, aber es ist eigentlich im Grunde auch eine
Bescheidung auf das Notwendige.
WEIGEL: Ich hab eigentlich versucht und bis jetzt durchgeführt,
unter allen Lebensumständen das Notwendige beizubehalten. Also so
wie ich Ihnen vorher sagte, es wurde möglich, daß der Brecht
ein Zimmer hatte, wo er ungestört arbeitete, und zwar ein ziemlich
großes, er mußte gehen können. Und es mußte möglich
sein, daß die Kinder ohne Furcht aufwachsen. Das ist gelungen. Aber
ich möchte nichts haben, das größer ist als das. Wenn Sie
so wollen, stimmt das schon, das ist ein Zug von mir, das ist für
mich wichtig. Ich hab zwar dieses ganze Haus da, das schaut kolossal aus,
aber im Ernst hab ich zwei Zimmer, und genau das will ich und nicht mehr.
HECHT: Alle Leute sagen, daß Sie bei Ihrer Haushaltführung
nicht nur ungeheuer praktisch, sondern auch eine gute Öknonomin gewesen
seien.
WEIGEL: Ach, wissen Sie, das ist furchtbar einfach: Mit 120 Dollar
ließen sich keine Sprünge machen.
HECHT: Und Sie haben sich das erhalten?
WEIGEL: Ja, es ist sogar so: Ich kann's mir nicht mehr abgewöhnen.
Die Weigel hatte eine exakte Tagesplanung: Pünktlich 9 Uhr, oft
schon früher, war sie im Theater und arbeitete gewöhnlich bis
3 Uhr nachmittags ohne Pause durch. Dann fuhr sie nach Hause, aß
zu Mittag, erledigte Arbeiten in ihrem Sekretariat der Brecht-Erben und
ruhte sich aus. Sie ging, wenn sie Vorstellung hatte, abends 6 Uhr wiederum
ins Theater. Nur Wochenende hielt sie sich möglichtst störunsfrei.
Das war ihr Program auch im Alter.
HECHT: Wie erhalten Sie sich Ihre Engergie?
WEIGEL: Tja, die hab ich! Was soll ich 'n da machen?
HECHT: Na doch, die muß man doch...
WEIGEL: Manchmal wär'n einige Leute froh, wenn ich nicht so viel
hätte.
HECHT: Aber um sich seine Arbeitskraft zu erhalten, braucht man bestimmte
Erholungen.
WEIGEL: Na, die hab ich.
HECHT: Ist für Sie Erholung zum Beispiel Pilzesuchen?
WEIGEL: Pilzesuchen, Schwimen, Patience legen, Kreuzworträtsel,
Kriminalromane - ich hab also doch alles in Hülle und Fülle.
HECHT: Ja. Das sind Sachen, die Sie rausführen auf ein ganz anderes
Gebiet.
WEIGEL: Völlig. Es ist tatsächlich so, daß ich völlig
vergesse, was los ist. Also, wenn ich weg bin, wegfahre, hab' ich nach
zwei Tagen dieses Theater aus dem Kopf völlig verloren. Das ist furchtbar.
6
Sie konnte sehr schnell Kontakte zu Leuten herstellen und nahm fast
alle Gelegenheiten wahr, die sich dazu boten.
Aus dem Umgang mit Leuten wurden bei ihr sehr schnell Arbeitsbeziehungen.
Und natürlich half sie auch hier, wo es ihr möglich war. Als
sie zum Beispiel hörte, daß die Schuhe der Kleinkinder aus zu
hartem Leder geliefert wurden, wandte sie sich sofort an das zuständige
Ministerium und bat die Direktoren der Kinderschuhfabriken zu sich. - Für
Kindergärten, deren Patin sie war, ließ sie Geshirr mit aufgemalten
Pflanzen und Tieren herstellen. - Den Schulen machte sie Brecht-Liederbüccher
mit Notenarrangements für die Gitarre zum Geschenk. - Eine Schauspielertruppe,
die wegen ihrer politischen Arbeit aus ihrem land vertrieben wroden war,
kleidete sie neu ein.
Es gibt Hunderte solcher Beispiele. Immer sann sie auf Möglichkeiten
zu helfen, und ihre Hilfe war immer auf einen konkreten gesellschaftlichen
Nutzen gerichtet.
HECHT: Ist Ihre politische Haltung eigentlich auf Praktisches gerichtet?
WEIGEL: Wissen Sie, ich glaub nicht, daß der Humanismus was anderes
ist, als daß man Leuten hilft, und zwar nicht Menschen, sondern Leuten.
Und ich finde, daß das nur theoretisch auszudrücken eben langweilig
ist und überflüssig, ich möcht's lieber gern, wo ich's eben
kann, praktisch kriegen. Und das ist, wenn Sie wollen, eine der riesigen
Vergnügungen, die ich hab, daß mir das so möglich geworden
ist. Das ist doch einfach eine phantasitische Angelegenheit.
Nach Brecht Tod gelang es ihr und ihren Mitarbeitern, das Theater in
Brechts Sinne fortzuführen und weiterzuentwickeln. Die Leitung des
Berliner Ensembles und die Pflege des Werkes von Brecht waren für
sie Aufgaben, die ihr Leben ausfüllten. Mit Brecht hatte sie sich,
wie sie es in ihrem Schlußwort zum Brecht-Dialog 1968 ausdrückte,
«für ein Theater entschieden, das sich auf die Seite der vielen
stellt und ihr Schicksal in ihre eigenen Hände legt, also für
Politik auf dem Theater». Sie bot als Schauspielerin wie als Theaterleiterin
gewissermaßen eine Garantie für ein realistisches politisches
theater. Alle Experimente auf der Bühne dieses Hauses hatten einen
zutiefst realistischen Charakter. Das bedeutete immer Verzicht auf Irrationales,
auf Symbolisches, auf Mystisches und auf alle Formen damit verbundener
schauspielischer Spielastik. So gelang ihr und ihren Mitarbeitern, den
Ruhm des Berliner Ensembles als einer kulturellen Einrichtung der Deutschen
Demokratischen Repulbik zu festigen.
In den letzten Jahren war ihre «schlimmste Sorge», wie
sie sagte, daß es ihr nicht mehr gelungen war, «die Leute am
hteater zusammenzuhalten». So starb sie - nach einem triumphalen
Erfolg als Pelagea Wlassowa in der Arbeitervorstadt Nanterre - mitten in
der Arbeit, die lange Jahre so erfolgreich war, und hinterließ ein
ruhmvolles Theater voller Aufgaben.
S. 234
Wien Vorlesungen 1990: 30. Mai 1990: Podiumsgespräch mit Dr. Werner Hecht, Dr. Konstantin Kaiser, Manfred Karge, Dr. Kurt Palm und Eva Zilcher. "Helene Weigel - Kennerin der Wirklichkeit"