Theater der Zeit 08.71, S. 10 Das Berliner Ensemble an Helene Weigel

 

 

 

  von Picasso anläßlich des Geburtstags Weigels 1958.
Zeichnung Picasso 1958

Das Berliner Ensemble, für das ich hier spreche, ist das Berliner Ensemble, wie es jetzt besteht. Hunderte von Schauspilern und Mitarbeitern sind durch dieses Theater durchgegangen, haben von Helene Weigel gelernt und isch mit ihre auseinandergesetzt. Wir haben außer der Ehrung und Dankbarkeit, die alle ihr an diesem tage bezeugen, die Pflicht, das Werk Brechts in diesem Hause und für diesen Staat hochzuhalten.

Hier war Helene Weigel zu Hause, hier trat sie in der Rolle der Mutter auf die Bühne. Sie verstand sich und wir verstanden sie als Mutter dieses Theaters; um jeden und alles hat sie sich gekümmert mit Freundlichkeit. Was sich in desem Hause befindet, ist von ihr geprägt. Was in diesem Hause gearbeitet wurde, ist von ihrem Wesen beeinflußt. Was von diesem Hause hinausging, ist von ihr angeregt.

Gemeinsam mit Brecht schuf sie unser Berliner Ensemble; das wurde unter ihrer Leitung zu einem Zentrum der Theaterkunst im sozialistischen Staat. Die Tradition der proletarischen Dramatik und die humanistischen Strömungen der bürgerlichen Bühne wurden aufgehoben in einem Modell des sozialistisch-realistischen Theaters. - Helene Weigel, 22 Jahre Intendantin, war die wichtigste Schauspilerin dieses Hauses. Ihre Kunst setzte Maßstäbe. Täglich hat sie ihre Mitarbeiter gefordert: so wurde geschaffen, was nun vorliegt, die Bilanz eines Lebensweges, die Grundlage der Weiterarbeit in ihrem und Brechts Sinne.

Sie war überzeugt, daß sich Kunst und Künstler für den Fortschritt entscheiden müssen. Politik auf dem Theater war für Helene Weigel eine praktische Entscheidung, ein Mittle, um durchzusetzen, daß der Menschen dem Menschen ein Helfer wird. «Ich glaube nicht, daß der Humanismus etwas anderes ist, asl daß man den Leuten hilft, und zwar nicht ,den Mensch`, sondern Leuten», meinte sie. Sie war eine praktische Persönlichkeit, und ihre Praxis diente einer Politik, die Zusammenleben und Lebensbedingungen der Leute verbesserte. Das tat sie mit Vergnügen: in der Kunst und im Leben.

Wie Brecht überprüfte sie ständig die eigene Arbeit. Helene Weigel sah nichts als abgeschlossen an. Den besseren Vorschlag eines anderen nahm sie immer an, aber sie prüfte die Argumente unnachgiebig. Auf Diskussionen mit ihr konnte sich nur einlassen, wer mehr als eine Seite einer Sache bedacht hatte; Dialektik war ein Grundprinzip ihres Wesens. Oft provozierte sie den Widerspruch; das hielt sie jung und lebenskrätig. Theorie, wußte sie, kann nur Theorie einer Praxis sein. Konzeptionen stimmte sie erst zu, wenn sie sah, daß sie Wirklichkeit werden konnten. Sie rief nicht nur nach Hilfe für Schauspiler oder Techniker oder Leute außerhalb des Theaters, sie half selber. Sie wußte, was die Leute brauchten, sie sichterte den Leuten das Notwendige, oft mehr.

Sie war unglücklich, daß Brechts Vorschlag, eine Brigade zu gründen, die sich mit Problemen der Theorie und Praxis auf dem Theater befaßt, nicht genügend beachtet worden war. In einem Brief kurz vor ihrem Tod erinnert sie daran, diese Brigade nun bald zu konstituieren. Sie betrchtete das als eine Frage, die «ihr ganz besonders am herzen liegt'', wie sie schreibt, «besonders jetzt, da ich das Gefühl habe, daß ich nicht gerade viel Kraft habe».

Ihr persönliches Interesse ging im Interesse des Theaters auf. In Praxis gab es für sie nur eines: Die Aufführungen dürfen nicht gefährdet werden. Sie bereitete sich, schon sehr krank, auf ie Vorstellungen vor mit unglaublicher Energie. Wie Pelagea Wlassowa aus dem Krankenbett aufsteht, als die Partei sie braucht, verließ die Weigel ihr Bett und leistete das Eindrucksvollste, Schönste und Ergreifendste, für alle, die dabei waren, Zuschauer und Mitarbeiter. Auf dem Theater der Arbeiterstadt nanterre am 3. April 1971, 24 Uhr, sprach sie ihre letzten Worte als Schauspielerin auf der Bühne, die berühmten Verse: «Denn die Besiegten von heute sind die Sieger von morgen / und aus niemals wird: Heute noch.»

Die Schauspielkunst der Weigel war beispielhaft im klassichen Sinne. Sie spielte am Berliner Ensemble 12 Rollen in 22 Jahren. Ihre Popularität kam auch nicht durch Film oder Fernsehen zustande. Die Weigel wurde populär, weil sie in jeder Rolle beispielhaft das politische heater vorkörperte. Und sie sorgte dafür, daß dieses Berliner Ensemble viele realistische und dadurch politisch wirksame Gestalten neben den ihren hervorbringen konnte.

Wenn jemand zu ihr kam, fragte sie selten, was er wolle: Sie freute sich, daß er kam, weil sie sogleich für ihn wichtige Afgaben hatte. Wer keinen Plan für die Zukunft vorlegte, galt ihr wenig. In Sorge über die Entwicklung des Ensembles traf sie Entscheidungen, die Unentschiedenheit und Planlosigkeit aus dem Haus bannten. Die Ansprüche der Weigel dienten dazu, was Brecht die dritte Sache nannte. Sie selbst unterwarf sich ihren Ansprüchen. Sie kannte kein Ende der Arbeit: private Besuche waren sofort auch Arbeitsgespräche.

Wir kennen und bewunern ihre Energie, die sprichwörtlich ist und gelegentlich für berüchtigt galt. Auf dem, was sie für richtig erkannt hatte, bestand sie. Die Hartnäckigkeit, mit der sie unser Theater leitete, war Ausdruck ihres leidenschaftlichen Strebens, die Prizipien Brechts unter allen Umständen zu erhalten. Sie hat manchen vor den Kopf gestoßen, damit er seinen Kopf gebrauchen lernte. Die letzten Jahre waren für sie nicht ohne schwere Auseinandersetzungen, die ihr äußersten Einsatz und Entscheidungskraft abverlangten. Diese Auseinandersetzungen wurden von Feinden des Sozialismus benutzt, um eine angebliche Wirkungslosigkeit des klassikers Brecht zu demonstrieren. Das Berliner Ensemble wurde als Musuem denuziert. Wirwissen, daß unschätzbare Werte praktischer Arbeit der sozialistischen Nationalkultur durch Helene Weigel bewahrt und entwickelt wurden.

Helene Weigel wurde in den letzten Jahren im Ausland mehr und mehr zum Inbegriff für das Theater Brechts. Während zahlreicher Gastspiele des Berliner Ensembles und in internationalen politischen und künstlerischen Veranstaltungen bezeugten Tausende ihrer Lebensleitung vollste Hochachtung. Der Kampf gegen brecht und gegen das Berliner Ensemble wurde nicht «vornehm» geführt, wie sie sagte, um so mehr kämpfte sie gegen bewußte und unbewußte Mißverständnisse: die Angriffe auf sie schlugen unversehens in unfreiwillige Ehrungen um: «Die Narben der Verdienste».

Wir sind uns der Verpflichtung bewußt, die uns der Nachruf des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auferlegt: wir sind tief bewegt über die Würdigung, die unserem Vorbild Helene Weigel zuteil wird. «Unser sozialistischer Staat wurde ihr und Bertolt Brecht zur politschen und künstlerischen Heimat», heißt es im Nachruf des ZK, und; «Als Leiterin des Berliner Ensembles hat sich Helene Weigel unschätzbare Verdienste um unsere sozialistische Nationalkultur erworben. Unter ihrer umsichtigen Leitung und durch ihre künstlerische Leistung hat dieses Theater Weltruhm erlangt und einen großen Beitrag für das internationale Ansehen unseres sozialistischen Staates geleistet.»

Wir Mitglieder des Berliner Ensembles wissen, daß eine schwere Arbeit vor uns liegt. Die Frage, wie geht es ohne sie weiter?, kann nur beantwortet werden in ihrem Sinn. Das ist für uns eine große Verpflichtung, die wir nur einlösen werden durch gute und konuierliche Arbeit.

                                        Ruth Berghaus

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