Die Welt
Sa., 31. 10. 1998
„Es geht um Einfachheit"
Der Komponist Michal Nyman leidet unter Scheingefechten / PORTRÄTIERT Von MICHAEL
PILZ
Tee, natürlich nimmt er Tee zwischen fünf und sechs am Nachmittag. Mit der Tasse beschwert er das Konvolut seiner Notenblätter. Er kritzelt in die Partitur, radiert, stellt am Ende den kalten Darjeeling beiseite und gibt Auskunft. Michael Nyman greift die Fragen auf wie kleine Motive. Verarbeitet sie zu einem unterhaltsamen Redefluß, der auf verblüffende Weise seiner Musik ähnelt. Keine unangemessene Geste. Höflich in der Tonlage mit auffallend hübschen Wendungen. Very british.
Vor fünf Jahren gelang ihm das Kunststück, von einer romantischen Suite für Klavier und Holzbläser mehr als drei Millionen CDs zu verkaufen. Es war seine Musik zum Film „Das Piano", dem australischen Auswandererepos von Jane Campion. Michael Nyman fand sich in den Pop-Hitparaden wieder. Seither leidet er noch stärker an den Scheingefechten zwischen E und U. „Als ich selbst noch Kritiker war, in den 60er und 70er Jahren, habe ich mir schon gewünscht, alles gleichbedeutend beurteilen zu können: Mozart und die Beatles und Cage."
Zuvor hatte Nyman die Royal Academy als Komponist und das King's College als Musikwissenschaftler verlassen, schrieb zwölf Jahre für den „Spectator" sowie ein Kompendium „Experimental Music Cage and Beyond". Dann, 1976, spielte er mit der Michael Nyman Band sein erstes Album ein. Er nannte es „Decay Music", ließ es vom Popstar Brian Eno produzieren. Und hatte es auch deshalb nie leicht mit seinen füheren Kollegen. „Ich empfinde Mitleid mit ihnen", sagt er und reibt sich zufrieden das Kinn. „Ich bin jetzt mal zynisch, dann haben Sie mehr Spaß mit mir."
Michael Nyman nimmt seinen Tee in einem Hotel in Berlin mit Blick auf die Hochschule der Künste, wo ein Freund das Symphonieorchester leitet. Dieser Freund, der Brite Harry Lyth, plant im Jahr 2000 ein Filmmusik-Festival mit dem Schwerpunkt „Michael Nyman The Man and his Music". Also sieht sich Nyman in der Hauptstadt um, besichtigt die Kinos am Potsdamer Platz für eine Retrospektive, trifft Volker Schlöndorff in Babelsberg und verspricht ein Werk über Berlin: „Alle zehn Jahre porträtiere ich eine Stadt", erklärt er. 1989 war es Paris, anläßlich der Revolutionsfeiern. Berlin soll es sein zum Beginn des Millenniums.
Beinahe sei auch er ein Berliner geworden. Ein Ost-Berliner, genauer gesagt. Bei Georg Knepler wollte er zunächst studieren, dem Nestor der DDR-Musikwissenschaft, auch wegen Eisler. Hanns Eisler? „Oh ja, Alan Bush, mein Lehrer in London, war Kommunist und ein großer Verehrer von ihm. Als Eisler starb, veranstaltete er ein Gedenkkonzert. Ich war 18 als ich ihn entdeckte. Seitdem höre und spiele und kaufe ich seine Musik."
Eisler als Vermittler zwischen Pop und Klassik. Eisler als überraschendes Vorbild für einen der erfolgreichsten lebenden Komponisten. „Keiner hat diese Balance je erreicht wie er", sagt Michael Nyman und trägt die runde Brille unter der sehr hohen Stirn wie ein Zitat seines Idols. „Ich versuche diese Balance, nur auf einem anderen Weg, mit anderen Traditionen und Formen E und U.
Sie sind sein Lebensthema. So sehr er sich wehrt gegen die künstliche Trennung, so sehr ist er sich klar darüber, daß sein Ruhm erst in dieser Kluft gediehen ist. Da waltet er seit über zwanzig Jahren und ist nicht zu fassen. „Ich schreibe keine Popsongs oder Musicals. Ich schreibe Streichquartette. Doch möglicherweise kommt die Energie meiner Arbeit vom Pop." Kaum, daß er endlich dingfest scheint mit der Daddelmusik zum Computerspiel „Enemy Zero". Mit der Erkennungsmelodie eines französischen Privatsenders oder dem seifigen Soundtrack zu Andrew Niccols Science-Fiction-Drama „Gattaca".
Da eröffnet er bei EMI Classics seine Edition mit Konzerten für Posaune und Cembalo, für Saxophon und Cello im Auftrag eines Autokonzerns. Seine Gebrauchsmusik läßt er bei der Firma Virgin pressen. Wohlweislich trennt auch Michael Nyman sein Werk, während er klagt, wie unsinnig es sei, noch immer alles Seriöse hochmütig zu separieren. Eine gehobene Augenbraue, wieder sehr britisch: „Ein Komponist muß Geld verdienen." Deswegen müsse seine Musik von Hunderttausenden gehört werden. Sorry.
Seit seiner Geburt, seit 54 Jahren, lebt er in London. Hat dort studiert, hat Purcell und Händel ediert, das Libretto für Birtwistles „Down By The Greenwood Side" verfaßt. Und er hat sich die Liebe zu grünem Rasen und zum Fußball bewahrt. Eine etwas tragische Zuneigung zu den Queens Park Rangers, die irgendwann aus der ersten Liga verschwunden waren.
„After Extra Time" war sein Opus zur Europameisterschaft in England. Als 1985 im Heysel-Stadion von Brüssel die Tribünen brachen, schrieb Nyman sein „Memorial" als Requiem für die Opfer. Vier Jahre später tauchte das „Memorial" im Kino wieder auf. „Der Koch, der Dieb, seine Frau and ihr Liebhaber" hieß der Film von Peter Greenaway. „Recyclings and reworkings" nennt Nyman die Methode der musikalischen Rationalisierung, die so alt ist wie das menschliche Bedürfnis, Musik zu machen.
In Greenaways „Kontrakt des Zeichners" hat er Themen von Henry Purcell verarbeitet. Für die „Verschwörung der Frauen" bediente Nyman sich bei Mozart, im „Piano" bei Schubert, im „Unhold", seiner gewaltigen Blasmusik für Schlöndorffs Erlkönigsfilm, bei Wagner und immer wieder bei sich selbst. Es heißt, er habe den Begriff der Minimal Music erfunden, für eine sehr einfache, monotone Form, die vom Pop überschwenglicher begrüßt wurde als von der gestrengen Musikkritik. Na und, „Steve Reich, John Adams, Michael Nyman machen die Leute immer noch glücklich". Sagt Michael Nyman und ergreift das große Wort fürs Tonale. „Je komplexer, desto unverständlicher. Es geht um Einfachheit. Um Menschlichkeit."
Und um „human beings": Für armenische Erdbebenopfer schrieb er das Chorwerk „Out of Ruins". Sein drittes Streichquartett würdigte die Revolution in Rumänien, wo er als Student zwei Jahre lang Folklore gesammelt hatte. Er vertonte den japanischen Zeichentrickfilm „Das Tagebuch der Anne Frank", machte Lieder mit Texten von Paul Celan über den Holocaust und die „Musique Grande Vitesse" zur Einweihung der TGV-Schnellzugverbindung Paris-Lille. Seit er die Fallstudie „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" des Neurologen Oliver Sacks in eine Kammeroper verwandelte, beschäftigt ihn vor allem das menschliche Hirn. Nun arbeitet er an einer Oper über das rätselhafte Tourette-Syndrom. „Es gibt hunderte von Büchern zur Neurologie. Die Zeitungen sind voll davon. Doch die Menschheit ist auch nicht weiter."
Und die Musik? Was geschieht beim Komponieren im Kopf von Michael Nyman? Melodien und Klänge für Konzertmusik? Bilder für die Soundtracks? „Ich denke nie in Bildern. Niemals. Ich ha- be nie einen Film gesehen, bevor meine Musik dafür nicht fertig war." Er hat Filme von Peter Greenaway, Patrice Leconte und Volker Schlöndorff mit dieser Musik unterlegt, und versehentlich haben seine Stücke Leitmotive und große Gefühle entwickelt. Die Filme wurden Kunstwerke. Die CDs wurden zu „O.S.T.s", wie jene „Original Soundtracks" genannt werden, die sich heute verkaufen wie Popalben. „Energetic processes", sagt Michael Nyman gern und erklärt so E und U und alles, was er auf Notenblättern hinterläßt.
© DIE WELT, 31.10.1998